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Unschuldig politischer Gefangener
der USA
Zweimal lebenslänglich
für den Führer des American Indian Movement
Seit 13 Jahren sitzt Leonard Peltier, Führer des American Indian Movement (AIM), unschuldig im Gefängnis. In St. Louis verbüßt er eine zweimal lebenslängliche Haftstrafe für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat Seine wirkliche Schuld besteht darin, Indianer zu sein und für die Rechte seines Volkes zu kämpfen. 180 Jahre nach Erlassen der Verfassung der Vereinigten Staaten und der Erklärung der Menschenrechte (Bill of Rights); 100 Jahre nach der Sentenz des US-Generals Sheridan, dass nur ,,ein toter Indianer ein guter Indianer" sei; 90 Jahre nachdem der Oberste Gerichtshof des Landes entschied, dass ein Indianer durch Geburt ein ,,Fremder (Alien) und Abhängiger" sei, benötigt der Staatsapparat der USA den Justizmord an einem autochthonen Führer, um den ethnischen Minderheiten des Landes klarzumachen, dass die Verteidigung ihrer Rechte von den Herrschenden nicht toleriert wird.
Heinz Dieterich: Sehen Sie
eine Parallele zwischen Ihrem Fall und dem Malcolm X., Martin Luther Kings und
Nelson Mandelas?
Leonard Peltier: Ja, ganz sicher. Die herrschende weiße Klasse versuchte,
ihre Bewegungen zu zerstören. Hier in den Vereinigten Staaten z.B. wollten
sie die Bewegung der Schwarzen vernichten. Sie verleumdeten die bekanntesten
Führer der Bewegung und töteten die des mittleren Niveaus, die nicht
ganz so bekannt waren, aber in der Bewegung Unterstützung genossen. Einer
von ihnen war Fred Hampton von der Black Panther Party. Er wurde ermordet. Die
später bekannt gewordenen Beweise zeigen eindeutig, dass er kaltblütig
(von der Polizei - H.D.) ermordet wurde. Ja, es gibt sehr starke Parallelen
zwischen ihren Kämpfen und unserem
Heinz Dieterich: Die US-Regierung behauptet, dass es in den Vereinigten Staaten
keine politischen Gefangenen gibt. Betrachten Sie sich als politischen Gefangenen?
Leonard Peltier: Auf jeden Fall, und die letzte Entscheidung des Gerichtes beweist
das aufs Neue. Im Grunde sagten sie, es käme nicht darauf an, ob die Beweise
gegen mich ,,fabriziert" worden sind und dass ich in keinem Fall das Recht
hätte, mich zu verteidigen. Das haben sie von Anfang an gesagt und dementsprechend
haben sie gehandelt. Ich habe kein Recht, mich zu verteidigen, ich besitze diese
Rechte nicht.
Heinz_Dieterich: In Deutschland glaubt jeder, dass die USA eine Demokratie sind.
Kann ein demokratischer Staat derartige Dinge zulassen?
Leonard Peltier: Ich habe noch nicht erlebt, dass ein Mitglied einer ethnischer
Minderheit oder ein Armer Präsident dieses Landes werden konnte oder in
irgendeine wichtige Führungsposition gelangte. Es gibt einige auf niederem
Niveau, z.B. im Kongress, doch das hat nichts mit Demokratie zu tun. Die Demokratie
hier ist ein Betrug. Nur die Reichen werden Führer in diesem Land.
Heinz Dieterich: Die Kindersterblichkeitsrate und die Selbstmordrate der indianischen
Bevölkerung sind zehnmal bzw. zweimal so hoch wie im nationalen Durchschnitt.
Was sind die Gründe dafür?
Leonard Peltier: Das ist das Resultat der Unterdrückung, der Armut, des
Alkoholismus, der Arbeitslosigkeit und der geringen Bildungs- und Sozialeinrichtungen
in den Reservaten. Die Menschen in den Reservaten leben ohne Hoffnung. Die Kinder
sehen, dass ihre Eltern ständig deprimiert sind und versuchen, diese Depression
mit Alkohol zu betäuben. Sie gehen dann den gleichen Weg, denn sie verstehen,
dass es für sie ebenfalls keine Hoffnung gibt. Es existiert ebenfalls ein
gespaltenes Rechtssystem: eines für innerhalb der Reservate und das andere
für außerhalb. Gegenwärtig gibt es in Süd-Dakota eine große
Kontroverse über dieses doppelte Justizsystem und die großen Ungerechtigkeiten,
gegen die wir in den sechziger und siebziger Jahren protestierten. Ein Weißer
schoss einem Indianermädchen in den Kopf. Ihm wurde der Prozess gemacht,
und eine weiße Jury fand ihn schuldig. Doch der Richter verurteilte ihn
auf Bewährung. Und ein Indianer, der von einem geparkten Wagen eine Dose
Bohnen nahm, wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Dies ist ein
Beispiel für das gespaltene Justizsystem, welches, zusammen mit den anderen
erwähnten Faktoren, die hohen Selbstmord-, Alkoholismus- usw. Raten hervorruft.
Heinz Dieterich: Haben Sie im Gefängnis besondere Nachteile dadurch, dass
Sie zu einer ethnischen Minderheit gehören?
Leonard Peltier: Nun, das ist das gleiche wie in der Gesellschaft draußen.
Da unsere Bevölkerungszahl so klein ist, haben wir keine politische Macht.
Und da wir nicht die Kontrolle über die ökonomische Reichtümer
unserer Reservate besitzen, haben wir auch keine wirtschaftliche Macht. Das
gleiche gilt für das Leben innerhalb der Institutionen. Da unsere Bevölkerungszahl
nicht so groß ist wie die anderer Gruppen, leiden wir mehr. Im Grunde
ist es dasselbe. Im allgemeinen werden wir offen nicht mehr diskriminiert als
andere Gruppen, denn wir sind schon populär; allerdings nicht bei der Regierung,
denn wir haben etwas, was sie möchte.
Ein Jahr später, im Oktober 1987, hatte sich die Lage Leonard Peltiers
dramatisch verschlechtert. Durch ein Gespräch mit William M. Kunstler,
Vizepräsident des Center for Constitutional Rights in New York, und einer
der Verteidiger Leonard Peltiers, erfuhr ich, dass die letzte Gerichtsinstanz
vor dem Obersten Gerichtshof eine Revision des Peltier-Verfahrens abgelehnt
hat. Auf meine Frage, ob er Revision beim Supreme Court einlegen wolle, sagte
Kunstler, dass es keinen Sinn habe, weiter auf das rassistische Justizsystem
der Vereinigter Staaten zu vertrauen. Peltiers einzige Chance, so Kunstler,
liege darin, eine große öffentliche Protestbewegung in Gang zu setzen.
Die Sowjetunion hatte angeboten, Leonard Peltier politisches Asyl zu geben.
17 Millionen Menschen in der UdSSR unterzeichneten Petitionen, um Peltier jnen
rechtmäßigen Prozess zu gewährleisten, den er nach einer Untersuchung
von Amnesty International nie erhalten hat (ai New York 1981: Peltier was "unable
to get a fair trial"). Vergebens. Seit September 1987 ist Leonard Peltier
auf einem Auge irreversibel erblindet. Nach einem Blutgerinnsel in der Netzhaut
war ihm acht Monate lang verwehrt worden, einen Ophthalmologen im Gefängnis
zu empfangen, obwohl in Kansas City, in der Nähe seines gegenwärtigen
Zuchthauses (Leavenworth, Kansas, ein Augenfacharzt bereit war, ihn zu behandeln.
Es ist offensichtlich, dass Leonard Peltier ,,for reasons of state" vernichtet
werden soll. Was ihn vor der Hinrichtung a la Sacco und Vanzetti bewahrt hat,
sind drei Meineide. Die US-Regierung erreichte die Auslieferung Peltiers aus
Kanada mittels dreier Meineide bedrohter Belastungszeugen - wie heute öffentlich
dokumentiert ist. Doch die Auslieferung erfolgte unter der Bedingung, dass Peltier
nicht exekutiert werde. Diese Bedingung hat die US-Regierung erfüllt. Der
Justizmord vollzieht sich langsam und exemplarisch als Warnung für die,
die an Widerstand denken. Für die Presse der Freien Welt die nicht müde
wird, täglich über Dissidenten-Unterdrückung in den sozialistischen
Ländern zu schreiben, existiert der Fall Peltier nicht. Peltier ist zu
einer ,,Un-Person" geworden. Ist es unumgänglich, ihn doch zu erwähnen,
dann in grotesk manipulierter Form (vgl. New York Times Leitartikel, ,,Moscow
Joins the Helsinki Watch", 24.9.1987, oder die Kabel der Nachrichtenagenturen
dpa und Xinhua vom 22. August des gleichen Jahres). Die gleiche Presse, die
Laudatio über Laudatio auf die Rehabilitierung der Opfer des stalinistischen
Terrors häuft, hält die Mauer des Schweigens intakt, die für
Leonard Peltier das Ende bedeutet. Es ist ein moralischer Kompromiss unserer
Zeit, diese Mauer zu zerbrechen und den Justizmord an Leonard Peltier zu verhindern.
Damit er nicht ein weiteres unschuldiges Opfer auf jenem endlosen ,,Weg der
Tränen" wird, als den die Indianer ihre Geschichte seit der Invasion
des Weißen Mannes bezeichnen. Zu Recht.
Heinz Dieterich
(Das Interview, dass Heinz Dieterich mit Leonard Peltier führte, fand 1988 statt. Das bedeutet, dass sich Peltiers Haftzeit nunmehr auf 26 Jahre beläuft. Eine gewisse Hoffnung bestand auf Begnadigung, oder zumindest Neuaufnahme des Verfahrens in der Amtszeit Bill Clintons, aber auch diese Regierung ging vorüber, ohne dass sich etwas getan hätte.)
aus: Identität und Emanzipation Lateinamerikas, Monimbo e.V.