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"Gott kann die Geschichte nicht ändern - aber die Historiker können es."

Der Grund dafür, daß viel weniger über die in mancher Hinsicht überragende Kultur Karthagos bekannt ist, als über das römische Imperium, hat seinen Grund schlicht darin, daß die Römer die Karthager vernichtend besiegt haben. Entsprechend ihres militärischen Sieges wurde in den folgenden Jahrhunderten die Geschichte aus römischer Sicht geschrieben und die karthagische Sicht der Unterlegenen geriet mehr und mehr in Vergessenheit.
Bei den Opfern der europäischen Kolonisierung trifft das noch viel mehr zu: Die europäischen Eroberer schrieben die Geschichte der Eroberung, nicht die des Widerstandes. Verstärkend kommt noch hinzu, daß viele der eroberten Völker nicht über eine Schriftsprache verfügten und damit eine Dokumentation historischer Ereignisse nur von Mund zu Mund weitergegeben werden konnte. Durch den Tod der GeschichtenerzählerInnen, SängerInnen und DichterInnen und durch das Verbot der Sprache konnte die Geschichte der Ureinwohner dauerhaft dem Vergessen übereignet werden.
Aber auch dort, wo sich die mündliche Überlieferung nicht unterbinden ließ, oder wo schriftliche Dokumente der Ureinwohner existierten, ließ sich durch die Schaffung einer europäischen Geschichte die Wirklichkeit "neu schreiben".
Hierzu ist es einmal notwendig, im Vergleich der europäischen Kulturen und der der UreinwohnerInnen Aspekte, in denen die fremden Kulturen eindeutig weit überlegen waren, einfach zu "vergessen". Wer weiß denn schon, daß die im 15. Jahrhundert aus Spanien vertriebenen Mauren astronomische und medizinische Kenntnisse hatten, die von den Europäern noch 300 Jahre später nicht erreicht worden waren? Gleiches trifft auf die Kenntnisse der amerikanischen Hochkulturen in Astronomie, Landwirtschaft, Staatsverwaltung und Sozialwesen zu, auf die Navigationskenntnisse der Polynesier, die kartografischen Fähigkeiten der australischen Völker, oder auf die Fähigkeiten der amerikanischen und afrikanischen UreinwohnerInnen über riesige Strecken Kommunikation aufrechtzuerhalten.
Und das sind nur die Fähigkeiten und Kenntnisse, die sich mit denen der europäischen Eroberer vergleichen lassen. Vollkommen unberücksichtigt bleiben in der Regel kulturelle und soziale Errungenschaften, die für ein friedliches Miteinander und eine Versorgung aller Angehörigen eines Volkes ausgelegt waren.
Natürlich gibt es offensichtlich die UreinwohnerInnen und in irgendeiner Form müssen sie daher auch in der Geschichtsschreibung einen Platz finden. Bei den Beschreibungen fällt auf, dass als Merkmale der eroberten Völker besonders Aspekte herausgestellt werden, die sich als "barbarisch" bezeichnen lassen. Sehr schnell wird so die Kultur der Azteken mit Menschenopfern und bei lebendigem Leib herausgeschnittenen Herzen verbunden. Indianische Kulturen werden schnell in einem Atemzug genannt mit Marterpfählen, Kriegsbeilen und Skalps und afrikanische Völker mit Kannibalismus und hemmungslosen, exstatischen Tänzen zu Trommelrhythmen.
Diese Assoziationen kommen nicht von ungefähr, denn über lange Zeit wurden diese Beschreibungen immer wieder wiederholt.
Andererseits wird die europäische Kultur wesentlich differenzierter dargestellt und daher würde kaum ein Europäer zum Beispiel die monströsen Hexenverbrennungen, die Folter der Inquisitionsgerichte, die öffentlichen Hinrichtungen, die Vernichtung ganzer Völker zur Beschreibung europäischer Kulturen heranziehen.

Auch damit, dass man das gleiche Ereignis mit unterschiedlichen Begriffen beschreibt, lässt sich eine andere Darstellung der Geschichte erreichen. Gegnerische Truppen lassen sich als "wilde Horden" bezeichnen, als "grausam" und "barbarisch", ihre Befehlshaber sind "Hauptmänner" oder "Anführer". Diese Wahl von Begriffen ist immer noch ein wichtiger Bestandteil politischer Propaganda, ob nun im Konflikt zwischen zwei Staaten oder bei einer Wahl. Aber im Grunde ist die Propaganda auch ein wesentlicher Teil der Geschichtsschreibung.

In den letzten Jahren und Jahrzehnten beginnt sich das Bild der Geschichte zu wandeln, und aus den meisten Schulbüchern ist zum Beispiel der Begriff von Columbus als "Entdecker" verschwunden, aber immer noch findet man einen Buchtitel wie "Die blutige Kultur der Azteken" in der gleiche Reihe wie "Die glorreiche Kultur der Römer".
Ebenso kann man immer noch von einem Reisebericht in das Amazonasgebiet lesen, als einer "Reise zu den letzten weißen Flecken der Erde" und zu Gegenden, die "noch nie eines Menschen Auge erblickt hat".
Ganz offensichtlich muss man, wenn man solche Sätze schreibt, davon ausgehen, dass die Amazonas-IndianerInnen, für die diese weißen Flecken schon lange bekannt sein könnten und die die unbekannten Gegenden schon vor Hunderten von Jahren erblickt haben, nicht wichtig sind. Was zählt, ist für viele Nachkommen der Eroberer immer noch, welche weißen Flecken sich auf europäischen Karten befinden, und ob Europäer dieses und jenes schon gesehen haben.

Bildnachweis: http://www.hdg.de/lemo/objekte/pict/sp940148/index.jpg

Deutsches Colonien- und Reisespiel
Verfasser: Heinrich Kratz
Deutsches Historisches Museum, Berlin