Anguilla

Zur Lage von Anguilla befragt, antworten die Einheimischen gelegentlich "Somewhere on the map" ("Irgendwo auf der Karte"). Mag sein. Allzu schwer fällt die geografische Lagebeschreibung allerdings gar nicht: Anguilla ist - sieht man von den Jungferninseln einmal ab - die nördlichste der Kleinen Antillen, jener Kette tropischer Inseln, welche die Karibik im Osten gegen den Atlantik abgrenzt.

Seinen Namen erhielt Anguilla 1493 von Christoph Kolumbus, den die langgestreckte Inselform offensichtlich an einen Aal (span. "anguila" = Aal) erinnerte. Schon lange zuvor hatten jedoch die Arawak-Indianer das nur 91 Quadratkilometer große Eiland, das ihnen als Zeremonienstätte diente, "Malliouhana" getauft.

Auf Anguilla leben nur etwa 7 000 Menschen. Es sind fast ausschließlich Schwarze und Mulatten, Nachkommen afrikanischer Sklaven, in deren Adern teils etwas irisches Blut fließt, und sie gehören neun verschiedenen, meist protestantischen Religionsgemeinschaften wie den Anglikanern, Methodisten, Adventisten und Baptisten an. Sie leben hauptsächlich vom Fischfang, von ihren kleinen Gemüse- und Obstgärten, ihren überall frei herumlaufenden Ziegen und neuerdings auch vom Fremdenverkehr.

Der Aufstand eines Zwergs
Anguilla war 1493 von Christoph Kolumbus auf seiner zweiten Amerikafahrt entdeckt und nach seiner länglichen Gestalt auf den Namen Anguilla (span. "anguila" = Aal) getauft worden. Noch blieb aber das kleine Eiland für die nächsten 150 Jahre von den Europäern unberührt: Spanien machte zwar als Entdeckerland und beherrschende Macht in der Karibik Besitzansprüche geltend. Aber es kam nie zu einer wirklichen Kolonisation, da man sich ausschließlich auf die Ausbeutung der Gold- und Silberschätze im mittelamerikanischen Raum konzentrierte.

Gegen Ende des 16. Jahrhunderts drangen dann erstmals auch andere europäische Mächte in die Karibik vor: England, Frankreich und die Niederlande. 1650 wurde die Insel schließlich von den Briten in Besitz genommen, und schon bald ließen sich ein paar Siedler, hauptsächlich Iren, nieder. Ende des 17.Jahrhunderts gelangte die Insel kurzfristig in französischen Besitz, fiel aber sogleich wieder an Großbritannien zurück. Und dabei ist es bis heute geblieben.

Ende der sechziger Jahre begann sozusagen die neuere Geschichte Anguillas. Damals stand das kleine Eiland weltweit in den Schlagzeilen der Presse, und zwar wegen seines Aufstands gegen das "Mutterland" Großbritannien, was den Giganten zu einer lächerlichen militärischen Intervention gegen den Zwerg veranlasste.

Die Affäre begann damit, dass Großbritannien beschloss, Anguilla politisch den benachbarten britischen Besitzungen St. Kitts und Nevis anzugliedern und diesen Dreier-Verband in den Status einer "Associated Statehood" (eines selbstverwalteten, aber mit Großbritannien assoziierten Staats) zu entlassen. Den zuständigen Behörden war dabei offensichtlich entgangen, dass die geografische Nähe das einzige war, was Anguilla mit St. Kitts und Nevis verband. Zwischen den Bevölkerungen von St. Kitts und Nevis und derjenigen Anguillas bestand hingegen kein gutes Einvernehmen. Besonders die Einwohner von St. Kitts verachteten ihre nördlichen Nachbarn und machten sich über die "Bobo Johnnys", wie sie die Anguiller nannten, bei jeder Gelegenheit lustig. Auch der Premierminister von St. Kitts machte keinen Hehl daraus, dass er eine wirkliche Einflussnahme der Anguiller in der gemeinsamen Regierung nicht zulassen werde. "Ich werde Salz in ihren Kaffee und Knochen in ihren Reis tun", war einer seiner markigen Aussprüche.

Die Anguiller waren zu Recht beunruhigt: An Protestkundgebungen schwangen sie die britische Flagge und zeigten Spruchbänder mit Slogans wie "Wir wollen keine Statehood; wir wollen England!" Lieber wollten sie eine britische Kolonie bleiben, als an St. Kitts und Nevis gekettet in die Unabhängigkeit entlassen werden. Großbritannien, wenig einfühlsam, ließ sich von seinen Plänen nicht abbringen: Im Februar 1967 wurde St. Kitts-Nevis-Anguilla zum Assoziierten Staat erklärt.

Die Anguiller trugen daraufhin zuerst einen in schwarze Tücher gewickelten Sarg mit der Aufschrift "Statehood" über ihre Insel. Später zündeten sie in ihrer Verbitterung das Regierungsgebäude auf Anguilla an und jagten die zwölf Polizisten, welche St. Kitts auf Anguilla stationiert hatte, von der Insel. Am 30. Mai 1967 (der heutige "Anguilla Day", ein Feiertag, erinnert an dieses Datum) erklärte Anguilla einseitig seinen Austritt aus der Associated Statehood.
St. Kitts reagierte auf diese "Frechheit", indem es sämtliche Postsendungen nach Anguilla beschlagnahmte. Das traf die Anguiller hart, denn seit jeher arbeiteten viele anguillische Männer saisonal auf anderen Inseln und sandten jeweils ihren Verdienst per Post nach Hause. Doch die Anguiller gaben nicht auf. Sie taten sich zusammen und halfen einander aus, um die Krise zu überstehen. So erhielten sie durch die ihnen auferlegte Isolation die Gelegenheit, zu lernen, wie man sich selber verwaltet und durchschlägt. Am 9. Januar 1969 proklamierten sie schließlich die Unabhängigkeit auch von Großbritannien.

Nun schenkte Großbritannien der kleinen Karibikinsel doch endlich Beachtung, verkannte aber offenbar noch immer die Lage und schickte sich an, Anguilla "zurückzuerobern". Am 19. März 1969 landeten 338 britische Soldaten - Grenadiere der Königlichen Marine und Red Devil-Fallschirmjäger - auf Anguilla. Empfangen wurden diese Elite Kampftruppen allerdings keineswegs von bewaffneten Rebellen, wie sie wohl befürchtet hatten, sondern von Kindern mit Blumen und lachenden Erwachsenen, welche "God Save the Queen" sangen. Kein einziger Schuss wurde bei der "Invasion" abgegeben.

Der weltweite beißende Spott, den die Briten für ihre "Heldentat" ernteten, brachte sie dazu, ihre Position gegenüber den Anguillern nochmals zu überdenken. In der Folge entsandten sie Truppen auf die Insel, um der Bevölkerung beim dringend notwendigen Bau eines Landungsstegs und dem Ausbau des Strassen- und Telefonnetzes behilflich zu sein. Anguilla wurde vorerst wieder direkter britischer Verwaltung unterstellt, und am 19. Dezember 1980 erhielt es den Status eines eigenständigen "British Dependent Territory" (von Grossbritannien abhängiges Territorium mit innerer Selbstverwaltung.)

Anguilla hat nunmehr eine eigene sechsköpfige Regierung ("Executive Council") und ein zwölfköpfiges Parlament ("House of Assembly"), welches alle vier Jahre von der Bevölkerung gewählt wird. Diese beiden Organe sind für alle zivilen Angelegenheiten auf der Insel zuständig. Ein britischer Gouverneur als Vertreter von Königin Elisabeth II., ihres Zeichens Staatsoberhaupt Anguillas, ist für das Polizeiwesen, die Rechtsprechung, die Außenpolitik und die Verteidigung verantwortlich. Für die Anguiller ist die heutige Regelung optimal: Zwar besitzen sie weitgehende Selbstverwaltung, können aber jederzeit mit der finanziellen und notfalls militärischen Unterstützung Großbritanniens rechnen. Und darüber hinaus hat bei dem Protest ein ordentliches Strassen- und Telefonnetz herausgeschaut.

aus: http://www.markuskappeler.ch/tex/fratex.html
© 1989 Markus Kappeler / Groth AG (erschienen in der "Flags of the Nations" Stamp Collection, Groth AG, Unterägeri)