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Nur in wenigen Fällen
wurden von den Eroberer versucht, die Sprache der Einheimischen zu erlernen
- meistens geschah dies dort, wo sich relativ wenige Europäer unter den
Einheimischen aufhielten, wie etwa die französischen Trapper im Nordamerika
des 17. Jahrhunderts.
Die Regel war, dass die einheimische Sprache entweder in Schulen aktiv bekämpft
oder zumindest behindert wurde, etwa wenn sie nicht als Amtssprache erlaubt
war.
In Schulen, in die die Kinder der Einheimischen oft gezwungenermaßen und
gegen den Widerstand der Eltern eingewiesen wurden, war es den SchülerInnen
meistens auch verboten, untereinander ihre gewohnte Sprache zu sprechen.
Das Verbot der einheimischen Sprachen ist ein wesentlicher Teil der Kolonisierung:
Mit dem Verlust der Sprache verschwanden auch Geschichte, Philosophie und Religion
der Ureinwohner, da die Sprache der Eroberer keine adäquaten Worte für
die entsprechenden Begriffe besaß.
Man kann die Auswirkungen des Verlustes einer Sprache vielleicht nachvollziehen,
wenn man sich vorstellt, dem Volk der Mathematiker würde verboten, Begriffe,
wie "Gleichung", "Exponent", "Quadratwurzel" oder
"Integral" zu benutzen. Eine ganze Wissenschaft würde nur noch
unter größten Schwierigkeiten weitervermittelt werden können.
Entsprechend lassen sich komplexe religiöse und mythologische Systeme der
Ureinwohner nicht mehr von den Älteren an die Kinder weitergeben.
Wichtig ist auch, dass sich das Leben der Eroberten mit dem Verlust der Sprache
auf einer ganz praktischen Ebene ändert.
In einer der Inuit-Sprachen gibt es zum Beispiel neben mehr als 20 Worten für
Weiß die Worte:
Kanevvluk für feinen
Schnee
natquik für Schneetreiben
natquigte für Schneetreiben am Boden
nevluk für klebenden Schnee
nevlugte für haftende Schneefocken
qanikcaq für Schnee am Boden
muruaneq für weichen Tiefschnee
qerretrar für verharschten Schnee
nutaryuk für Neuschnee
qanisqineq für Schnee, der auf fließenden Gewässern treibt
utvak für Schneebrocken
navcaq für Schnee in brüchigen Platten
Es ist offensichtlich, dass
die traditionelle Jagd für die Inuit nahezu unmöglich wird, wenn die
Sprache untergeht, die für Bewegung und Orientierung in verschneitem Gebiet
notwendig ist.