Der Baum, der Milch weint
Die Indianer nennen ihn
Caucho. Sie ritzen ihn an, und Milch fließt. Die Milch wird in Schalen
aus zurechtgebogenen Bananenblättern aufgefangen, und während menschliche
Hände sie formen, wird sie in der Hitze von Sonne oder Rauch allmählich
hart. Seit undenklichen Zeiten stellen die Indianer aus dieser Waldmilch lang
brennende Fackeln, unzerbrechliche Gefäße, regendichte Dächer
und springende Bälle her;
Der König in Portugal bekam schon vor über fünfzig Jahren kolbenlose
Spritzen und wasserdichte Kleidung aus Brasilien, und davor hatte schon der
gelehrte Franzose La Condamine die Eigenschaften des unerhörten Gummis
studiert, das sich nicht an die Schwerkraft hält.
Tausende und abertausende Schuhe waren aus dem Amazonasurwald schon nach dem
Bostoner Hafen verschifft worden, als Charles Goodyear und Thomas Hancock vor
einem halben Jahrhundert herausfanden, wie man das Gummi unzerbrechlich und
unaufweichbar macht. Von da an produzierten die USA jährlich fünf
Millionen Paar Schuhe, denen Kälte, Nässe und Schnee nichts anhaben
konnten, und auch in England, Deutschland, Frankreich entstanden große
Fabriken.
Bei Schuhen bleibt es nicht. Das Gummi zieht eine ganze Produktkette nach sich
und schafft neue Bedürfnisse. Das moderne Leben kreist in atemberaubendem
Tempo um den Baumriesen, der Milch weint, wenn er verwundet wird. Vor acht Jahren
gewann John Dunlops Sohn in Belfast ein Dreiradrennen, weil er statt mit den
üblichen Vollgummireifen mit luftgepumpten Reifen gefahren war, die sein
Vater erfunden hatte. Vor einem Jahr kreierte Michelin dann abschraubbare Reifen
für die Teilnehmer am Paris-Bordeaux-Rennen.
Der ungeheure Amazonasurwald, der nur für Affen, Indianer und Irre dazusein
schien, wird zum Jagdrevier der United States Rubber Company, der Amazon Rubber
Company und anderer entlegener Firmen, die da an seinem Euter schmatzen.
aus: Eduardo Galeano, Erinnerung an das Feuer