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1649, SAINTE MARIE DES HURONS
Die Sprache der Träume
"Die Ärmsten",
denkt Pater Ragueneau, während er zusieht, wie die Huronen einen Mann,
der gestern nacht einen rätselhaften Traum hatte, mit Geschenken und Ritualen
verwöhnen. Das Dorf füttert ihn und tanzt für ihn; die Mädchen
tätscheln ihn und reiben ihn mit Asche ein. Dann setzen sich alle in einen
Kreis und versuchen seinen Traum zu erraten. Sie schließen dem Traum Bild-
oder Wortpfeile hinterher, und der Mann sagt immer wieder "nein" und
"nein", bis einer "Fluss" sagt und nun alle zusammen den
Traum zu fassen bekommen: Ein Fluss, eine reißende Strömung, eine
Frau allein im Kanu, sie hat das Ruder verloren, der Fluss treibt sie fort,
die Frau schreit nicht, sondern lächelt, sie sieht glücklich aus...
"Bin ich das?" fragt eine der Frauen. "Oder ich?" fragt
eine andere. Die Gemeinde ruft nach der Frau, die mit den Augen zu den heimlichsten
Wünschen vorzudringen versteht, damit sie die Traumsymbole deutet. Die
Seherin schlürft Kräutertee, ruft ihren Schutzgeist an und entschlüsselt
behutsam die Botschaft.
Wie alle Irokesenvölker glauben die Huronen, dass der Traum die alltäglichsten
Dinge nur mit den Fingern der Wünsche anzutippen braucht, und schon verklärt
er sie und verwandelt sie in Symbole. Sie glauben, Träume sind die Sprache
der unerfüllten Wünsche, und benennen die heimlichen Sehnsüchte
der Seele, die im Wachen unerkannt bleiben, mit dem Namen Ondinnonk. Die Ondinnonks
kommen auf den Reisen zum Vorschein, die die Seele unternimmt, wenn der Körper
schläft.
"Die Ärmsten", denkt Pater Ragueneau.
Bei den Huronen macht sich eines schweren Verbrechens schuldig, wer die Aussagen
eines Traumes missachtet. Was der Traum sagt, gilt. Befolgt der Träumer
die Anordnungen seines Traumes nicht, ergrimmt seine Seele und macht seinen
Körper krank oder bringt ihn um. Alle Völker der Irokesenfamilie wissen
zwar, dass Krankheiten von Kriegen oder Unfällen oder von der Hexe verursacht
werden können, die einem Bärenzähne oder Knochensplitter in den
Körper treibt, sie kommen aber auch aus der Seele, nämlich wenn die
Seele sich etwas wünscht, das man ihr nicht gibt.
Pater Ragueneau diskutiert mit den anderen in der Umgebung predigenden französischen
Jesuiten. Er verteidigt die kanadischen Indianer: Es ist einfach zu leicht,
Gotteslästerung zu nennen, was bloße Dummheit ist...
Manche Geistlichen sehen Satans Pferdefuß hinter solchem Aberglauben hervorschauen
und entrüsten sich, dass die Indianer alle Naslang gegen das sechste Gebot
anträumen und sich am darauffolgenden Tag therapeutischen Orgien hingeben.
Ohnehin laufen die Indianer gewöhnlich nackt herum, begaffen und berühren
einander in dämonischer Freiheit und heiraten und entheiraten sich, sooft
es ihnen beliebt. Und kaum befiehlt es der Traum, geht auch schon das Anfakwandat-Fest
los, und das ist immer Anlass zu hemmungslosen Sünden. Pater Ragueneau
streitet ja nicht ab, dass die Saat des Teufels hier auf fruchtbaren Boden fallen
kann, in dieser Gesellschaft ohne Richter, ohne Polizisten, Gefängnisse
und ohne Besitzende, in der Männer und Frauen sich in die Regierung teilen
und gemeinsam falsche Götter anbeten, aber er besteht doch auf der grundlegenden
Unschuld dieser primitiven Seelen, die Gottes Gebote nur noch nicht kennen.
Und während andere Jesuiten jede Nacht zittern vor Angst, ein Irokese könne
träumen, dass er einen Geistlichen töte, kann Ragueneau sich entsinnen,
dass so etwas sogar schon mehrmals vorgekommen ist und dass man dann dem Träumer,
während er in einer harmlosen Pantomime seinen Traum austanzt, nur zu erlauben
braucht, eine Soutane aufzuschlitzen.
- Das sind alberne Sitten, meint Pater Ragueneau, - aber es sind keine verbrecherischen
Sitten.
aus: Eduardo Galeano, Erinnerung
an das Feuer