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Die Entdeckung der indianischen Zeichensprache war für die Forscher des 19. Jahrhunderts ein Beleg dafür, dass die Indianer nur eine primitive Vorstufe der "zivilisierten" Sprache beherrschten: "Die Gesten der niederen Stämme des Menschen können im allgemeinen als emotional und instinktiv klassifiziert werden, ähnlich wie die der niederen Tiere", bemerkte der Ethnologe Garrick Mallery. Er schrieb im Jahre 1881 ein ganzes Buch über die Zeichensprache der amerikanischen Ureinwohner.
Damals hoffte man noch, bei den Indianern eine echte Steinzeitsprache zu finden. Doch diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Heute weiß man, dass alle Kulturformen des Menschen über komplette Sprachen verfügen - Naturvölker ebenso wie unsere vermeintlich hochentwickelten Industrienationen.
Viele der "primitiven" Indianersprachen sind so kompliziert, dass sie selbst Sprachwissenschaftler das Fürchten lehren.
"Wiitokuchumpunkurüganiyugwivantümü" - dieses Wortungetüm aus der Sprache der Paiute bedeutet Glied für Glied: "Messer-schwarz-Büffel-Haustier-schneiden-auf-sitzen-Plural-Futur-Partizip-belebt-Plural". Frei übersetzt heißt das: "Diejenigen, die sitzen werden und mit einem Messer einen schwarzen Büffel aufschneiden". Grammatikalisch gesehen ist der Bandwurm ein Verb. Viele Indianersprachen haben die Eigenschaft, das, was unsere Sprache in einem Satz ausdrückt, in einem einzigen Wort zu sagen. "Inkorporierend" (einverleibend) nennen Linguisten solche Sprachen. Der Name "Der mit dem Wolf tanzt" ist ein bekanntes und harmloses Beispiel. Indianersprachen drücken Feinheiten aus, die in unserer Sprache übergangen werden:
Oft muss der Sprecher genau angeben, ob er eine Aussage bezeugen kann oder ob er sie nur vom Hörensagen weiß: Der deutsche Satz "Er hackt Holz" würde in der nordkalifornischen Wintu-Sprache "pik´upabe" lauten - aber nur, wenn man den Vorgang mit eigenen Augen gesehen hat.
Wenn man den Holzhacker nur gehört hat, sagt man "pi k´upanthe". Wenn man nur vom Hörensagen von ihm weiß, heißt es "pi k´upake". Und wenn man lediglich annimmt, dass der Mann Holz hackt, weil er das regelmäßig tut, lautet die korrekte Verbform "pi k´upa´el".
Einige Indianersprachen unterscheiden sogar zwei Formen von "wir": Die eine bedeutet "ich und du", die andere Form "ich und andere, aber nicht du". So zum Beispiel in der Sioux-Sprachfamilie. Doch selbst wenn man derartige Klippen gemeistert hat, bleiben genug Gelegenheiten, um ins Fettnäppchen zu treten. Denn es gibt eine Fülle von Regeln im indianischen Sprachgebrauch, die Europäer nur schwer nachvollziehen können.
So haben zum Beispiel bei den Yana in Kalifornien die meisten Wörter für Männer andere Formen als für Frauen. Wenn ein Mann "Grizzly-Bär" sagt, so heißt das "t´en´na". Frauen sagen dagegen "t´et". "Hirsch" heißt in der Männersprache "bana", in der Frauensprache "ba". Männer gebrauchen die Männerwörter nur, wenn sie mit Männern sprechen. In allen anderen Situationen werden die Frauenwörter benutzt. Verwechslungen geben Anlass zu größter Heiterkeit.
Keinesfalls humorvoll reagierten die Indianer vieler Stämme dagegen, wenn jemand gegen ein sprachliches Tabu verstieß. "Das schwerste Verbrechen, das jemand begehen kann, ist pet-chi-é-ri, das bloße Aussprechen des Namens eines verstorbenen Verwandten", schrieb der Ethnologe Stephen Powers 1877 über die Karuk-Indianer in Kalifornien. "Es ist eine tödliche Beleidigung für die Hinterbliebenen und kann nur gesühnt werden durch die gleiche Summe Blutgeld, die auch für Mord gezahlt wird." Der Grund: Man war überzeugt, dass sich der Geist des Verstorbenen durch das Aussprechen seines Namen gestört fühlte.

Bei den meisten Indianern Nordamerikas mussten deshalb alle Stammesmitglieder, die zufällig denselben Namen wie ein Verstorbener trugen, einen neuen Namen annehmen. Besonders unpraktisch war es, wenn der Tote den Namen eines Tieres oder einer Pflanze trug: In diesem Fall wurde für das betreffende Lebewesen ein neuer Name gesucht. Mit der Zeit konnte auf diese Weise das Vokabular einer Stammessprache beträchtlich umgekrempelt werden.
Besonders weit verbreitet war das Schwiegermutter-Tabu: Viele männliche Indianer fürchteten den Kontakt zur Mutter ihrer Frau wie der Teufel das Weihwasser. Bei den Navajo und bei den Apachen war es dem Bräutigam zeitlebens streng verboten, seine Schwiegermutter anzusehen oder ihren Namen zu nennen, geschweige denn ein Wort mit ihr zu wechseln. Wenn sich ein direkter Austausch doch einmal nicht vermeiden ließ, musste eine dritte Person zur "Nachrichtenübermittlung" herangezogen werden.

aus: http://www.indianer-web.de von Siegfried Weny