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Um halb sieben Uhr morgens bin ich auf dem Markt. Auf Tischen und auf der nackten Erde liegen Hunderte von Strohmatten, auf denen Zweige, Blätter, Gräser, Samen und Nüsse aufgeschichtet sind. Weiße Tonschalen enthalten rote, gelbe und orangefarbene Beeren. Zehn Zentimeter lange Stücke von hohlen Bambusrohren dienen als Behälter für Heilöle. Zweige und Stängel sind zu Bündeln verschnürt. Händler bearbeiten Äste mit der Säge und wickeln die Späne in Papier oder Bananenblätter, um sie zu verkaufen.
Mein Begleiter ist Nat Quansah, ein Ethnobotaniker aus Ghana, der auf Madagaskar lebt und dort seit fast zwei Jahrzehnten Heilpflanzen erforscht. Er erklärt mir, dass der Markt für die einheimische Bevölkerung bei medizinischen Problemen die wichtigste Anlaufstelle sei, da die Händler nicht nur als Verkäufer fungierten, sondern auch als Ärzte und Apotheker. Ihr Wissen beruht auf Erfahrung, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Ihr Rat - fachmännisch oder nicht - kann über Leben und Tod entscheiden. Ein Händler erzählt mir, dass eine Pflanze, die gegen Bluthochdruck hilft, in höherer Dosierung zum Gift wird, mit dem die Menschen Selbstmord begehen.
Wer einen ausführlicheren Rat benötigt, geht zum ornbiasy, einem Heiler. Ein ornbiasy - in vielen Fällen ist es eine Frau - hat ein besonderes Verhältnis zu Pflanzen und Kenntnisse über Kultgegenstände, die bei der Heilung helfen können. Wir suchen eine Heilerin in ihrem Haus auf, das aus vier kleinen Räumen mit Lehmfußboden besteht Während wir auf einer Holzbank im Wartezimmer sitzen, beobachten wir, wie ein Patient nach dem anderen hier ankommt und - mit Pflanzen versorgt - wieder geht Einer hatte eine grünliche Rankenpflanze bekommen, den Pharmazeuten als Colombo-WurzeI bekannt, die Schmerzen lindert, ein anderer die Blätter und Rinde der Harungana madagascarensis, eines Johanniskrautgewächses, das nachweislich bei Verdauungsstörungen hilft.
Als ich die Heilerin frage, woher sie ihre Arzneimittel beziehe, macht sie nur eine weit ausholende Handbewegung. Quansah erklärt: "Sie geht einfach aus dem Haus und sammelt die Pflanzen, die sie braucht. Wie lange wird sie das noch können, überlege ich, als wir weiter über die Insel fahren: Die Straße, die West- und Ostmadagaskar miteinander verbindet, wird Kilometer um Kilometer von qualmenden Baumstümpfen gesäumt - Folge der Brandrodung, die unter dem Druck steigender Bevölkerungszahlen eine verwüstete Landschaft zurückgelassen hat. Eine große Zahl der Pflanzenarten auf Madagaskar ist vom Aussterben bedroht, sagt Quansah.
"Bitte anhalten!" rufe ich. Ich habe plötzlich daran denken müssen, wie viele potenzielle Heilmittel gegen Krebs und andere Krankheiten in Gefahr sind, unwiederbringlich verloren zu sein. Ich male ein großes X mitten auf die Straße und bitte Quansah, so lange dort stehen zu bleiben, bis er eine Heilpflanze erspäht hat, die es ausschließlich auf Madagaskar gibt. Das dauert nicht lange. Er mustert die Büsche und Sträucher zu beiden Seiten der Straße und deutet auf eine blühende Ranke, fünf Meter von uns entfernt: "Die violette Blüte da drüben."
Als wir darauf zugehen, zeigt er mir andere medizinisch einsetzbare Pflanzen am Wegesrand. Wir haben die Straße noch nicht verlassen, als er stehen bleibt und am Rand der Fahrbahn einen hohen, blattlosen Stängel berührt, der - zerstoßen und als Tee aufgebrüht - wie ein Betäubungsmittel wirkt. Chemische Stoffe in den Blättern eines anderen Buschs - nur ein paar Zentimeter weiter - töten nach seiner Auskunft ein bestimmtes Virus ab. Bei jedem Schritt zeigt mir Quansah neue Heilpflanzen. Mehr als eine Stunde später haben wir die violette Blüte noch immer nicht erreicht.

aus: National Geographic, April 2000