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Atomtests
Der 16. Juli 1945 markiert
mit der ersten Nuklearexplosion in der Wüste von New Mexiko in den Vereinigten
Staaten den Beginn des nuklearen Zeitalters. Seitdem wurden zwar nur zwei Bomben
im Krieg verwendet, aber die Atommächte sind seit diesem Zeitpunkt immer
begie-rig gewesen, ihre Atomwaffen zu testen. Einerseits sicherlich, um vor
der Welt ihre nukleare Schlagkraft zu beweisen, aber auch, weil das Interesse,
immer kleinere und gemessen an der Größe immer "bessere"
Atomwaffen zu entwickeln, bis zur Erfindung leistungsfähiger Com-putersimulationsprogramme
ausschließlich über praktische Tests zum Erfolg führen konnte.
Einige Historiker gehen davon aus, daß, so makaber das klingt, auch die
beiden Atombomben "Little Boy" und "Fat Man", die drei Wochen
nach der Detonation in New Mexiko über Hiro-shima und Nagasaki abgeworfen
wurden, ebenfalls als Test gedacht waren.
Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges konnten Atomwaffen nicht mehr ohne weiteres
ge-gen einen Kriegsgegner eingesetzt werden und da die riesige Zerstörungskraft
und die Gefah-ren durch direkte Strahlung und Verseuchung durch Fallout des
radioaktiven Staubes bald bekannt waren, mußten Testgebiete gefunden werden.
Zwar haben die Atommächte USA, Sowjetunion und China einige ihrer Atomwaffen
im ei-gentlichen eigenen Staatsgebiet getestet, aber einer Atommacht wie Frankreich
oder England hätte das eine Zerstörung und Verseuchung des Heimatterritoriums
bedeutet, die weit über alle historischen Kriegsschäden hinausgegangen
wäre.
In den Vereinigten Staaten wurden in zentralen Testgebieten in Nevada und New
Mexiko große Teile des Gebiets der Western Shoshone verstrahlt, deren
Protest schließlich zur Auf-gabe dieser Testgebiete führte. Da die
tödliche Strahlung der Testgebiete in Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden
gerechnet werden muß, kann man davon ausgehen, daß diese Stammesgebiete
bis in ferne Zukunft unbewohnbar bleiben müssen.
Das gleiche trifft auf die Testgebiete in Alaska zu, die den Lebensraum der
dortigen Urein-wohner stark verstrahlte.
Bereits ab 1946 wurden amerikanische Atomwaffen im Pazifik auf den Marshall-Inseln
getes-tet, die bis zum Ende des ersten Weltkrieges als "Deutsch-Mikronesien"
deutsche Kolonie waren.
Die BewohnerInnen des Bikini-Atolls und später auch des Eniwetok-Atolls
wurden vor Be-ginn der Tests auf andere Inseln umgesiedelt, die sehr viel kleiner
und landwirtschaftlich teil-weise kaum brauchbar waren. Viele der Umgesiedelten
müssen bis heute mit Lebensmitteln versorgt werden.
Sehr viel schlimmer als die sozialen und kulturellen Veränderungen waren
aber die ökologi-schen Schäden und die gesundheitlichen Schäden
durch den Fallout der noch in mehr als 1.000 Kilometer Entfernung zu einer stark
erhöhten Sterblichkeit durch Krebs und Leukämie führte, zu Fehlgeburten
und zu Mißbildungen wie den "Jelly-Babies" (Quallen-Kindern),
Ba-bies ohne Knochen und ohne Gesichter.
Welche ökologische Schäden das empfindliche Öko-System des Pazifik
durch die Atomtests davongetragen hat, ist bis heute nicht detailliert untersucht.
Offensichtlich ist aber, daß neben der direkten Verstrahlung der Inseln
und der Fischbestände hohe Dosen Radioaktivität in die Nahrungskette
gelangen und so Auswirkungen haben, die weit über den Umkreis der eigentli-chen
Testgebiete hinausreichen.
Bis 1963 wurden französische Atomwaffen in der Sahara der französischen
Kolonie Algerien getestet, bis die Proteste anderer afrikanischer Staaten und
schließlich die Unabhängigkeit Algeriens eine Aufgabe dieser Testgebiete
erzwang. Bis dahin waren in erster Linie die no-madischen Berber die Leidtragenden
dieser Tests.
Allerdings waren schon in den Jahren vorher die Voraussetzungen geschaffen worden,
A-tomwaffen ebenfalls im Pazifik, in Französisch Polynesien zu testen.
Die Tests selbst fanden zwar zum größten Teil auf der unbewohnten
Insel Mururoa statt, die nächste bewohnte Insel liegt aber kaum 100 Kilometer
entfernt. Nachdem der radioaktive Fallout auf dieser Insel ein Überleben
kritisch gemacht hatte, mußten die 80 BewohnerInnen evakuiert werden.
Der Fall-out hatte wahrscheinlich selbst auf dem gut 1.200 Kilometer entfernten
Tahiti noch schädliche Auswirkungen, allerdings wurde mit dem Beginn der
Tests 1966 die Krebsstatistik auf Fran-zösisch Tahiti ausgesetzt und erst
auf Drängen der Weltgesundheitsorganisation wieder auf-genommen.
Daher lassen sich zuverlässige Angaben über die Auswirkungen der Tests
kaum machen.
England testete einige Atomwaffen in Kooperation mit den Vereinigten Staaten
im Pazifik auf den Christmas Islands, aber ab 1952 auch an drei Orten in der
ehemaligen Kolonie Australien. Insbesondere bei den Tests im Gebiet um Maralinga
wurden mit Sicherheit Lebensgebiete der australischen Ureinwohner verstrahlt,
möglicherweise auch Ureinwohner direkt.
Über die chinesischen Atomtests in der Lop Nor-Wüste gibt es nur sehr
wenige Informatio-nen, ebenso, wie über die sowjetischen Atomtests. Allerdings
sind über die letzteren im Zuge von Glasnost viele Informationen im Nachhinein
bekannt geworden. Durch die breite Streu-ung der Testgebiete in der UdSSR ist
die Bevölkerung, insbesondere in Kasachstan, teilweise der 8-10-fachen
Strahlenbelastung des Tschernobyl-Unfalls ausgesetzt worden. Auch die Tests
auf der arktischen Nowaya Semlya-Insel haben durch den Fallout weite Gebiete
ver-seucht - besonders Leidtragende sind hier die Tschuktschen.
Direkt betroffen waren bei
dem größten Teil der mehr als 2.000 nuklearen Tests die Gebiete der
(ehemaligen) Kolonien und ihre Bewohner, aber durch alle atmosphärischen
und oberirdi-schen Tests wurde radioaktiver Fallout über den gesamten Globus
verteilt.
Auch die unterirdischen Tests, bei denen ein nuklearer Sprengsatz in einem mehrere
hundert Meter tiefen Schacht gezündet wird, setzen, wie Untersuchungen
von unter anderem Jaques Cousteau und Greenpeace erwiesen haben, innerhalb weniger
Jahre radioaktive Stoffe frei, die Boden und Wasser verseuchen und in die Nahrungskette
gelangen.
aus: Dokumentation von Reinhard Schulz MdB