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Mahatma Gandhi und die Unabhängigkeit Indiens
Mahatma ist ein Ehrenname
und bedeutet wörtlich 'Große Seele' (maha=groß, atman=Seele).
Der 1869 geborene Mohandas Karamchand Gandhi studiert in England brav Jura und
wird dann Rechtsanwalt in Britisch-Südafrika, wo er für die Gleichberechtigung
der Inder kämpft, nachdem er am eigenen Leibe auf einer Bahnfahrt die Demütigung
und Zurücksetzung durch die Weißen gespürt hat.
Nach zehn Jahren in Südafrika kommt die nächste entscheidende Wende
in seinem Leben, wieder auf einer Bahnfahrt. Er liest das Buch 'Unto this Last'
von John Ruskin, das ihm den Anstoß gibt, allem Materiellen zu entsagen
- kein kleiner Schritt für einen wohlhabenden Juristen mit Familie und
einem Jahreseinkommen von 5000 Pfund! Fortan versucht er nach den Ideen der
Bhagavad Gita frei von allen Bedürfnissen und materiellen Gütern zu
leben. Er fängt an, alle Arbeiten selbst zu tun, sich selbst die Haare
zu schneiden und selbst die Toilette zu säubern, unwürdige Arbeiten
für einen Mann seines Standes. Die letzte Loslösung ist für ihn
die Annahme des Brahmacharya-Standes im Alter von 37 Jahren. Brahmacharya bedeutet
absolute sexuelle Abstinenz und darüber hinaus die Kontrolle aller Sinne
und die Unterdrückung von Emotionen wie Ärger, Haß und Wut,
die Zurückhaltung im Reden und beim Essen. So schläft er z.B. immer
mit seiner Nichte Manu in einem Bett, um sich seine sexuelle Bedürfnislosigkeit
zu beweisen. Brahmacharya bedeutet jedoch auch die hingebungsvolle und selbstlose
Nächstenliebe und -hilfe. Sie ist die letzte notwendige Entscheidung, um
den Weg des Asketen zu gehen und darüber das Ziel der Selbstumwandlung
zu erreichen.
Weiterhin befaßt Gandhi sich mit Henry Thoreaus Gedanken über den zivilen Ungehorsam und handelt sich mit den daraus resultierenden Aktionen seinen ersten Gefängnisaufenthalt ein. Nach dieser persönlichen Veränderung kommt Gandhi am 9.1.1915 nach Indien zurück. Er gründet einen Ashram in Ahmedabad, der auch heute noch besteht und besichtigt werden kann. Er schaltet sich in die begonnenen Auseinandersetzungen mit den Engländern ein und spricht sich für gewaltlosen Widerstand nach der Idee der non-cooperation, d.h. des bürgerlichen Ungehorsams oder der Nicht-Zusammenarbeit, gegenüber den Besatzern aus. Es wird zur Ehrensache, die Engländer durch Boykott all ihrer Maßnahmen, Verordnungen und Produkte ("Sei Inder - kauf indisch") zum Wahnsinn zu treiben und dafür in englischen Gefängnissen einzusitzen.
Eine der spektakulärsten Maßnahmen ist der berühmte Salzmarsch von Ahmedabad an die Küste: Das Rohstoff-Monopol und damit das der Salzgewinnung liegt allein in den Händen der Engländer. Gandhi macht sich mit Tausenden von Anhängern auf zum Meer, wo jeder eine Handvoll Wasser in der Sonne verdunsten läßt, bis nur das Salz übrigbleibt ...
Als Mitglied des Indian National Congress und dessen zweimaliger Präsident (1924 bis 1937 und 1940/41) wird Gandhi auch vom englischen König in London empfangen. Er kommt zum Tee in den Buckingham Palast, gekleidet wie immer in sein selbstgefertigtes Baumwolltuch. Das Spinnen und Weben der eigenen Kleidung ist für ihn wie für viele andere Protest gegen den britischen Imperialismus und zugleich Teil seiner persönlichen religiösen Meditation. Der Besuch in England bringt nicht den gewünschten Erfolg. Gandhi kommt mit leeren Händen zurück und zieht weiter als Hinduprediger mit seinen Anhängern durch das Land, stets zu Fuß oder im Dritte-Klasse-Abteil der Eisenbahn.
1942 bietet Großbritannien Indien die Dominion-Verfassung für das Kriegsende an, woraufhin Gandhi nur meint: 'Engländer, verlaßt Indien!'. Die Labour-Regierung Attlee erkennt nach Kriegsende schnell, daß Indien für England nicht länger zu halten ist. Attlee sendet Lord Mountbatten, einen Enkel von Königin Victoria und direkten Nachfahren Karls des Großen ('von Battenberg' war der Name seines Vaters), als letzten Vizekönig nach Indien, um ihn eine elegante Lösung finden zu lassen, die Indien nach Möglichkeit als Handelspartner im Commonwealth halten soll. Mountbatten läßt sich mit umfangreichen Sondervollmachten ausstatten und erreicht in geschickten Verhandlungen und durch seine persönliche Freundschaft mit Gandhi die schnelle Unabhängigkeit innerhalb seines kurzen Aufenthaltes vom März bis August 1947.
Er wie Gandhi können jedoch bei den Sitzungen mit den indischen Führern aus der Congress Party, der Moslem-Liga und der Sikhs Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Hindus aufgrund der alten Gegensätze nicht verhindern. Somit bedeutet die Unabhängigkeit Indiens zugleich seine Teilung in ein hinduistisches Indien und ein islamisches Pakistan nach dem Cunningham Plan. Gandhi spricht sich bis zuletzt gegen diese Teilung aus, da er stets für ein friedliches Nebeneinander aller Religionen und eine Milderung der Kastenunterschiede eintritt.
Die Unabhängigkeit
Indiens am 15.8.1947 ist zugleich Beginn neuer bürgerkriegsähnlicher
Kämpfe zwischen Hindus, Muslimen und Sikhs, der Massenflucht von Muslimen
aus Indien und von Hindus aus dem neugeschaffenen Ost- und Westpakistan. Dabei
kommt es von beiden Seiten zu Überfällen auf Dörfer und Flüchtlingszüge
und zu schrecklichen Gemetzeln vor allem in dem durch die Staatsgrenze geteilten
Punjab, in denen sich in erster Linie Sikhs 'hervortun' - trotz des dort zusammengezogenen
britisch-indischen Heeres.
Mahatma Gandhi setzt seine Person und sein Leben auf Spiel, um die Ausschreitungen
in Calcutta, dem heißesten Krisenpunkt nach dem Punjab, zu verhindern.
Als es nach langer Ruhe dort zu kleineren Auseinandersetzungen kommt, tritt
er in den Hungerstreik, eine von ihm vorher schon oft mit Erfolg angewandte
Methode mit dem Ziel, nicht eher damit aufzuhören, bis Hindu- und Moslemführer
miteinander Frieden schlössen. Schon nach wenigen Tagen erreicht der Plan
seine Wirkung, im Gegensatz zur Armee an der Grenze zu Westpakistan, die den
dortigen Greueltaten hilflos gegenübersteht. Eine einzelne Person erweist
sich hier durch das Riskieren des eigenen Lebens als stärker als eine ganze
Armee. Eine faszinierende Geschichte, die nur in Indien möglich scheint,
wo Politik und Religion so eng miteinander verquickt sind, daß es selbst
den Moslemführern unmöglich ist, einen Hinduprediger, einen Mahatma,
sterben zu lassen.
Gandhi wird wenige Monate
später, am 30.1.1948, von dem radikalen Hindu Nathuram Godse während
seines abendlichen Gebetes vor dem Birla House in Delhi erschossen. Er stirbt
mit den Worten 'He Ram' - 'Gott'. Vorher sagte er seinen Anhängern, daß
er nur dann ein echter Mahatma gewesen sei, wenn er im Bewußtsein
der Gegenwart Gottes und nicht eines natürlichen Todes sterbe!
aus: http://destination-asien.de/indien/kolon.htm
Internet-Agentur Holger Müller