8. DAS ENDE DER KOLONISIERUNG

8.1. Die Endphase der Kolonisierung

Die Niederlage Deutschlands und der Türkei im ersten Weltkrieg führte zum Verlust ihrer Kolonien. In den Friedensverträgen wurden diese Gebiete den Siegermächten übergeben, sie wurden aber als Verwaltungsgebiete unter Aufsicht der neuen Staatenliga behandelt. Einige, sogenannte "A-Länder", wurden auf die Unabhängigkeit vorbereitet, und andere wurden bis auf weiteres wie andere Kolonien auch verwaltet.

Die Behandlung der deutschen und türkischen Kolonien 1919-1923
Deutschland: Togo und Kamerun wurden England und Frankreich gegeben, Südwestafrika der Union Südafrika, Tanganjika ging an England, Ruanda und Burundi and Belgien, die pazifischen Kolonien an Japan, Neuseeland, Australien und England.
Türkei: Syrien und der Libanon wurden Frankreich gegeben, Palästina und das Transjordanland an England.

 

Nach 1919 trachteten die Kolonialmächte nicht länger danach, ihre Territorien auszudehnen, da sie kaum noch über die Rohstoffe verfügten, entsprechende Anstrengungen zu unternehmen. Außerdem wurde das gesamte Konzept eines Kolonialreiches mittlerweile ziemlich kritisch gesehen.
Aber auch wenn die Kolonialmächte keine weiteren Kolonien zu erobern versuchten, begannen sie dennoch nicht, den bereits besetzten Kolonien zu verassen.
Zwei Ausnahmen gab es in den 30er Jahren, als Italien 1935-1936 Abessinien angriff und als Japan 1931 die Mandschurei und von dort aus 1937 China angriff.

 

8.2. Die Forderung nach Unabhängigkeit

Vor dem zweiten Weltkrieg gab es in mehreren Kolonien immer lautere Stimmen, die entweder die Selbstbestimmung oder die volle Unabhängigkeit forderten.

Im französischen Imperium wuchs die Opposition gegen Frankreich in Indochina und Forderungen nach Unabhängigkeit wuchsen mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts.
Im holländischen Imperium gründete sich 1908 eine nationalistische Bewegung, die in den 20er Jahren eine politische Veränderung verlangte.

In Indien war eine nationalistische Bewegung entstanden und der Indische Nationalkongress wurde gegründet, um mit den britischen Autoritäten für Indien zu sprechen. Nach 1919 erwarteten die Inder eine Gegenleistung für die Entsendung von Soldaten im ersten Weltkrieg, aber politische Reformen wurden nicht eingeführt. In vielen Gebieten entstand daraufhin eine Protestbewegung und eine neue Generation nationalistischer Führer entstand, angeführt von Gandhi und Nehru, die sich mit Aktionen des zivilen Ungehorsams gegen die Briten auflehnten.
England reagierte mit dem Einverständnis in eine begrenzte Selbstverwaltung Indiens bis 1935, aber bis 1939 hatte sich im Grunde nicht viel verändert. Als der Krieg ausbrach waren die Inder verärgert, dass England für sie den Krieg erklärte und der Nationalkongress sah zu diesem Zeitpunkt die Gelegenheit, die Unabhängigkeit zu fordern. England versuchte die Lösung dieses Konflikts auf die Zeit nach dem Krieg zu verschieben. Zeitgleich wuchs auch in Ceylon die Forderungen nach Unabhängigkeit.

1919 übergab Ho Chi Minh der Pariser Friedenskonferenz eine Petition, in der die vietnamesische Unabhängigkeit gefordert wurde. Eine revolutionäre Gruppe wurde gegründet und in den 30er Jahren entstanden Rebellionen in verschiedenen Gebieten des Landes.

In den 30er Jahren hatten einige junge Afrikaner die Möglichkeit in Nordamerika und Europa an der Universität zu studieren. Sie wurden häufig zu Unterstützern der Unabhängigkeitsbewegungen ihrer Länder. Kwame Nkrumah und Yomo Kenyatta, zum Beispiel, wurden zu Führern der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen in Ghana und Kenia.
Innerhalb des englischen Imperiums wurden 1931 die Länder Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika als gleichberechtigt und autonom akzeptiert und regelten ihre internen Angelegenheiten selbst.

1945 traf in Manchester eine Pan-Afrikanische Konferenz zusammen, deren mehr als 200 Delegierte bereit waren, gegen die Kolonialmächte für die Freiheit zu kämpfen.


8.3. Die Auswirkung des zweiten Weltkriegs und neue Einstellungen

Während des zweiten Weltkrieges waren die großen Kolonialmächte, England, Frankreich, Belgien und die Niederlande von ihren überseeischen Gebieten größtenteils abgeschnitten. Die Gründe hierfür waren ihre schwache Position durch die Besatzung durch die Deutschen in Europa, der globale Umfang militärischer Operationen und die japanischen Besetzung großer Teile Asiens.
Das Ansehen der Kolonialmächte in den Kolonien wurde zudem durch militärische Verluste und Niederlagen erschüttert. In einigen Ländern wurden die Japaner als Befreier von den Kolonialmächten willkommen geheißen.

In Indien konnte der Nationalkongress eine feste Zusage auf die Unabhängigkeit nach dem Krieg erhalten und England versprach auch Ceylon und Burma die Unabhängigkeit.

In Zentral- und Nordafrika förderten die Niederlagen der Alliierten und die Besetzung amerikanischer und britischer Gebiete den Widerstand gegen den Kolonialismus.
Der Krieg veränderte aber auch die Einstellung der europäischen Mächte zu ihren Kolonien und schwächte ihr Interesse, sie zu behalten. Viele der Opfer der Kolonisierung kämpften auf Seiten der Alliierten und es war nicht einsehbar, warum sie gezwungen werden sollten, die koloniale Herrschaft weiterhin anzuerkennen.
In den Ländern wuchs das Interesse immer mehr, sich selbst zu regieren. Aus diesen Überlegungen, sowohl auf Seiten der Kolonialmächte, als auch in den Kolonien entstand die Idee der Atlantik Charta und schließlich der Charta der Vereinten Nationen.

Als Japan 1945 besiegt worden war und die Armeen der Kolonialmächte ihre Kolonien wieder besetzen wollten, stießen Frankreich und Holland daher auf erheblichen Widerstand. Sie mussten feststellen, dass es unmöglich sein würde, die alte Kolonialherrschaft in vollem Umfang wieder herzustellen. Die Forderung nach vollständiger Unabhängigkeit in Südostasien war immer stärker geworden.


8.4. Der Beginn der De-Kolonisierung

1939 und auch nach dem Ende des zweiten Weltkrieges waren die Kolonialmächte überaus mächtig. Aber etwa 20 Jahre nach Kriegsende gab es die großen Kolonialreiche nicht mehr und die meisten der ehemaligen Kolonien waren zu unabhängigen Nationen geworden.
Verschiedene Ursachen beschleunigten diesen Prozess:
- Nach 1945 stand die Volksmeinung in Europa dem Kolonialbesitz auf anderen Kontinenten eher ablehnend gegenüber. Auch in Europa mehrten sich die Forderungen, den Kolonien die Freiheit und die Selbstbestimmung zu geben.
- Großbritannien hatte bereits in die volle Unanhängigkeit für Indien, Ceylon (Sri Lanka) und Birma eingewilligt, und so war es nicht mehr möglich, entsprechende Forderungen aus anderen Kolonien zu ignorieren.
- Die indische Unabhängigkeit 1947 wurde zu einem Beispiel für die Unabhängigkeitsbewegungen anderer Kolonien und bestätigte sie in ihren Forderungen.
- Von der Bevölkerung unterstützte nationalistische Bewegungen begannen in vielen Ländern für die Freiheit ihrer Länder zu kämpfen. Viele dieser Bewegungen wurden von Männern angeführt, die in Europa ausgebildet worden waren. Sie vertraten Vorschläge und Konzepte für die Zukunft der Kolonien, die für die Kolonialmächte akzeptabel waren.
- Es wurde immer deutlicher, dass die Erhaltung der Kolonialreiche finanziell und militärisch zu teuer würde, wenn sie verteidigt werden müssten. Diese Kosten konnten eingespart werden, wenn stabile politische Verhältnisse in den neuen Nationen geschaffen würden, die Handel und Ausbeutung weiterhin ermöglichten.
- Nachdem der Prozess der Dekolonisierung einmal in Gang gekommen war, entwickelte er seine eigene Dynamik, so dass die Aufgabe einer Kolonie die Rechtfertigung anderer in Frage stellte.


8.5. Der Prozess der Dekolonisierung

Es gab keine einzelne plötzliche Entscheidung, allen Kolonien die Unabhängigkeit zu gewähren, aber verschiedene Umstände führten zu Entscheidungen, sich allgemein aus den Kolonien zurück zu ziehen.
Die Vereinigten Staaten gaben die Kontrolle über die Philippinen 1946 auf. England, abhängig von amerikanischer Unterstützung, und mit dem Wissen um den amerikanischen Widerstand gegen die britische Herrschaft in Indien, versprachen Indien und Pakistan die Unabhängigkeit für 1946 und Ceylon und Burma für 1948. Während der Zeit zwischen 1946 und 1951 wurde allen Kolonien die Unabhängigkeit gewährt, denen dies vor oder während des Krieges versprochen worden war, oder wo politische Probleme eine Fortsetzung der Kontrolle nach dem Krieg unwahrscheinlich machte.

Eine zweite Phase der Dekolonisierung fand zwischen 1956 und 1965 statt, in der dem größten Teil der Kolonien ihre Unabhängigkeit gewährt wurde.
England zeigte sich einverstanden, die Regierungsmacht an die afrikanischen Kolonien zurück zu geben. Es wurde jedoch jeweils überlegt, in welchen Schritten und wie schnell dies geschehen sollte.
Die Goldküste war die erste englische Kolonie, die für die Unabhängigkeit bestimmt wurde. Nkrumah leitete eine radikale Kampagne für die Freiheit Ghanas und wurde von den Briten inhaftiert, aber England stimmte der Unabhängigkeit des Staates schließlich zu.
Daraufhin wurde von der britischen Regierung ein Programm für die vollständige Dekolonisierung Afrikas verabschiedet. Die Unabhängigkeit für die verbleibenden englischen Kolonien und die der anderen Kolonialmächte folgten bald darauf.

1965 war die Gewährung der Unabhängigkeit an die Kolonien fast vollständig abgeschlossen. Es gab immer noch einige Kolonien, speziell die portugiesischen wie Angola und Mozambique, aber auch sie erhielten die Unabhängigkeit in den folgenden Jahren.
Heute besitzt nur noch England Kolonien im alten Sinne des Begriffs, kleine Inseln, wie Anguilla, Bermuda, Montserrat, Ascension, St. Helena, die Cayman Inseln und die Jungferninseln.
Allerdings muss man Begriffe, wie Kolonie, Kolonisierung und De-Kolonisation heute etwas differenzierter begreifen, als von hundert oder zweihundert Jahren.
Zum einen zeigen militärische Interventionen, wie zum Beispiel die der Vereinigten Staaten in Grenada und Panama, dass souveräne Staaten oftmals nur so lange souverän und unabhängig bleiben können, solange sie sich entsprechend der wirtschaftlichen und strategischen Wünsche der Kolonialmächte verhalten. Selbst eine vom Volk unterstützte Regierung, die den ehemaligen Kolonialmächten nicht gefällt, wie in Chile 1972, in Cuba 1959 oder in Nicaragua 1978 muss mit massivem Druck rechnen.
Hinzu kommt eine Einflussnahme in wirtschaftlicher Hinsicht, die mindestens ebenso ernstzunehmen ist, wie die militärische Bedrohung.

a a