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1531, MEXIKO

Die Madonna von Guadalupe

Steigt dieses Lied aus der Erde auf, oder sinkt es vom Himmel? Ist es ein Leuchtkäfer oder der Abendstern? Das Licht weicht nicht vom Hügel Tepeyac, mitten in der Nacht glimmt und glitzert es auf den Steinen und verfängt sich in den Zweigen. Und Juan Diego, ein nackter Indianer, hat es, gebannt und erleuchtet, gesehen. Für ihn teilte sich das Licht aller Lichter, zerriß in rotgoldene Streifen, und ihm erschien im Mittelpunkt des Gleißens die lichteste und leuchtendste aller mexikanischen Frauen. In Licht gekleidet, sprach sie auf Nahuatl zu ihm:
- Ich bin die Mutter Gottes.
Bischof Zumárraga hört sich die Geschichte an und mißtraut ihr. Der Bischof ist vom Kaiser offiziell zum Beschützer der Indios eingesetzt und gleichzeitig der Hüter des Eisens, mit dem den Indios die Namen ihrer Besitzer ins Gesicht gebrannt werden. Er hat die aztekischen Bilderschriften, diese von Teufelshand gemalten Papierrollen, ins Feuer geworfen und fünfhundert Tempel und zwanzigtausend Götzenbilder zertrümmert. Bischof Zumárraga weiß genau, dass die Kultstätte der Erdgöttin Tonantzin oben auf dem Hügel war und dass die Indios dorthin pilgerten, um unsere Mutter zu verehren, wie sie das in Schlangen, Herzen und Hände gewandete Weib nannten.
Der Bischof ist mißtrauisch und befindet, der Indio Juan Diego habe die Madonna von Guadalupe gesehen. Die in Estremadura gebürtige, von Spaniens Sonne braune Madonna sei ins Tal der Azteken gekommen, um zur Mutter der Besiegten zu werden.

aus: Eduardo Galeano, Erinnerung an das Feuer