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Neben der militärischen Eroberung des lateinamerikanischen Kontinents gab es auch die geistige, intellektuelle und religiöse Eroberung. Die eine wurde durch das Schwert und Bleikugeln von Soldaten durchgeführt und hinterließ Berge von Leichen. Die andere wurde mit Gebeten und Mysterienspielen von Priestern durchgeführt.
Die Eroberung Südamerikas war für die spanischen und später auch die portugiesischen Eroberer die Fortführung der Reconquista auf der iberischen Halbinsel - die gottgewollte Säuberung Europas von den maurischen und jüdischen "Heiden". Durch den Sieg in Spanien gestärkt, war der vermeintliche Auftrag Gottes, die "Heiden" zum wahren Glauben zu bekehren und die vom "Götzendienst verseuchten Länder" zu unterwerfen, ein gottgefälliges Werk.
Die Kult und Weihestätten wurden zerstört und man trieb die Indianer zusammen, um sie in Gruppen zu taufen. Auf diese Weise konnten Chronisten behaupten, schon wenige Jahre nach der ersten Landung sei der größte Teil der indianischen Bevölkerung zu Christentum bekehrt worden.
In Wirklichkeit wehrten sich die Indianer erheblich gegen die Christianisierung. Teilweise kam es zu Aufständen, in deren Verlauf die spanischen Siedlungen niedergebrannt und die Missionare getötet wurden, und wenn sie auf den entweihten Plätzen gezwungen wurden, den Missionaren zuzuhören, hielten sie sich die Ohren zu oder rannten bei der ersten Gelegenheit weg.
Hinzu kam das Problem der Sprache. Um die Missionierung erfolgreich durchführen zu können, musste eine Verständigung gefunden werden, sowohl sprachlich als auch in der Symbolik.
Der erste Missionar, dem es gelang, die Indianer für dass Christentum zu interessieren, war Fray Pedro de Gante. De Gante war taubstumm und sein Gestammel verstanden selbst seine Ordensbrüder kaum. Für die Indianer waren Epileptiker, Stotterer und Stammler aber Menschen mit einem besonderen Bezug zu den Göttern.
Nach einiger Zeit begannen die Indianer und De Gante kurze Szenen über die Jungfrau Maria und andere Heilige zu spielen.
Pedro de Gante erklärte seinen Erfolg in einem Brief an den spanischen König mit den Worten: "Ich sah, dass die Anbetung der Götzen aus Tanz und Gesang bestand. Jede kultische Handlung, jede Anbetung, jedes Mal, wenn sie um Sieg und reiche Ernte anriefen, tanzten sie vor ihren Göttern. Weil ich das sah, und weil alle ihre Gesänge den Göttern gewidmet waren, schrieb ich feierliche Gedichte über die Gesetze Gottes, den Glauben und darüber, wie Gott Mensch geworden war."
De Gante erlaubte den Indianern, sich auf ihre Weise zu schmücken, wenn sie seine Lobpreisungen christlicher Heiliger sangen und tanzten. Diese Gesänge und Tänze stellten den ersten Schritt zu einem "Missionstheater" dar, das die alten Tänze areito und mitote mit katholischen Elementen zu einer Art religiöser Oper verschmolz.
Andere Missionare übernahmen Pedro de Gantes Idee und entwickelten sie weiter.
Schon nach einiger Zeit konnte man bei indianischen Gottesdiensten sehen, wie Indianer mittelalterliche Mysterienspiele tanzten.
Mit Pantomime und wortgewaltigen Dialogen wie im dramatischen aztekischen Theater vorher wurde das Opfer Christi dargestellt. Nur dass es eben nicht Huitzipochtli oder Tlaloc waren, die agierten und sprachen, sondern Jesus und Maria.
Schon 1533 wurde in Tlaxcala mit großem Erfolg "Das jüngste Gericht" in indianischer Inszenierung aufgeführt.

Je besser die Missionare die eroberte Kultur kennenlernten, desto besser verstanden sie es auch, andere Aspekte der Kultur zu vereinnahmen. Als sie feststellten, dass sich der amerikanische Kalender an religiösen Festen orientierte, fiel es ihnen nicht schwer, die katholischen Feste darauf zu projizieren, wie es schon mehrere Hundert Jahre vorher bei der Bekehrung der Germanen und Goten geschehen war.

Allerdings bot die Praxis des Missionstheaters den Indianern auch die Möglichkeit, ihre eigene Kultur und den Widerstand gegen die Eroberer zu pflegen. Es gab immer den Verdacht, dass die Indianer die Mysterienspiele missbrauchten, um weiterhin ihre alten Götter anzubeten.
Wenn Missionare die Indianer bei nächtlichen Ritualen überraschten und sie wegen Ketzerei bestrafen wollten, wurde ihnen oft ein Kreuz gezeigt, das zu Füßen ihrer Götterbilder aufgestellt war.