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Auch scheinbar neutrale
und objektive Materialien wie Landkarten werden in Verbindung mit dem Thema
Kolonialismus zu politischen Mitteln.
Bekanntlich lassen sich die Länder der Erde, die ja über die Kugel
des Globus verteilt sind, nicht in gleichem Maß auf einer flachen Karte
darstellen. Eine Kartendarstellung bedeutet immer eine Verzerrung der Realität.
Wobei "Verzerrung" nicht nur Entfernungen oder Landesgrenzen betrifft,
sondern eben auch den Eindruck, den das Abbild der Länder beim Betrachter
hinterlässt.
Die verschiedenen Möglichkeiten
der Abbildung der Erde werden Projektionen genannt. Je nachdem, ob die Globusoberfläche
auf einen Zylinder oder Kegel projiziert wird, wird das Ergebnis "Zylinder-"
oder "Kegel-Projektion" genannt. Jede kartographische Abbildung der
Erdoberfläche auf einer flachen Karte hat bestimmte Vorzüge.
1568 entwickelte der flämische Geograph und Mathematiker Gerhard Mercator
eine neue Projektionsmethode, die nach ihm "Mercator-Projektion" genannt
wird und die hauptsächlich der Navigation zugute kam. Die Mercator-Projektion
ist Längengrads-genau und daher können Seefahrer mit dem Lineal eine
gerade Verbindung zwischen Heimat und Zielhafen ziehen, den Winkel ablesen und
entsprechend des Kompasskurses lossegeln.
Der Nachteil der Mercator-Projektion ist eine grobe Verzerrung der Kontinente
in Bezug auf ihre Fläche - je weiter Länder vom Äquator entfernt
sind, desto größer werden sie auf der Mercator-Projektion dargestellt.
Oder auch, je näher die Länder am Äquator liegen, desto kleiner
erscheinen sie auf der Karte. Die Mercator-Projektion ist die gängigste
Art von Karte, man findet sie beispielsweise in allen Schulatlanten.
Es stellt sich daher die Frage, wozu Kinder und Jugendliche eine Karte kennen
müssen, die für sie nur nützlich ist, wenn sie ohne Radar und
Satellitennavigation über die sieben Weltmeere fahren wollen. Im Grunde
sollen sie doch anhand der Karten etwas über Länder und Kontinente
lernen.
In diesem Fall lernen sie, dass Europa und Nordarmerika unverhältnismäßig
größer sind, als die eroberten Länder. Die Welt wird in der
Mercator-Projektion so dargestellt, und dieses Größen-, und in gewisser
Weise auch Macht-Verhältnis, verankert sich in den Köpfen der Betrachter.
Auf
der von dem Historiker Professor Doktor Arno Peters 1974 entwickelten Projektion
werden die Erdteile in einer flächengetreuen Darstellung abgebildet. Die
Peters-Projektion zeigt sehr deutlich, welche flächenmäßig unbedeutenden
Kolonialmächte vergleichsweise riesige Länder erobert haben.
Allein dass der (flächenmäßig) winzige Staat Belgien, der eine
Gesamtfläche von 30.500 km² hat, im 19. Jahrhundert den Kongo besetzt
hat, dessen heutiges Staatsgebiet allein 2.300.000 km² besitzt, ist, angesichts
der Größenverhältnisse von 1:80, nahezu unglaublich. Dabei umfasste
das Gebiet des damaligen Belgisch-Kongo noch weitere Länder, die heute
nicht mehr zum Kongo gehören. Wenn man nun im Atlas nachschaut, um einen
visuellen Eindruck dieser unglaublichen Informationen zu bekommen, stößt
man in der Regel auf eine Abbildung, die der Mercator-Projektion entspricht.
Hier sieht das Verhältnis Belgien-Belgisch Kongo eher nach einer Größe
von 1:20 aus.
Ebenso scheint Skandinavien auf einer Mercator-Projektion dreimal so groß
zu sein, wie Indien. In Wirklichkeit verhält es sich genau umgekehrt.
Trotzdem fast alle Nachschlagewerke
darauf hinweisen, dass jede Projektion ihre Mängel hat, und der Vollständigkeit
halber auf Azimutal-, Kegel- und polykonische, sowie Zylinderprojektionen verweisen,
erhält man in den seltensten Fällen überhaupt Informationen zur
Peters-Projektion.
Auch in den Anhängen der Schulatlanten wird die Peters-Projektion in der
Regel noch nicht einmal erwähnt.
Im Zusammenhang mit der politischen Bedeurung von Kartographie und Geographie
steht auch die Frage, warum noch immer nach dem Meridian von Greenwich, der
das Observatorium bei London schneidet, der Rest der Welt vermessen wird. Warum
ist es zum Beispiel nicht der Meridian von Kinshasa oder der von Masatepe?
Und wer hat eigentlich festgelegt,
dass bei jedem Globus der Norden oben ist?